Geht's auch ohne Anschreiben?
Das Anschreiben kostet oft Zeit und Nerven. Die eigene Qualifikation in Satzform fehlerfrei und überzeugend zu Papier zu bringen, erweist sich oft schwerer als die bloße Auflistung von Stationen und Tätigkeiten im Lebenslauf. Immer wieder schlagen auch Unternehmen in diese Kerbe und lassen öffentlichkeitswirksam verkünden, dass ein Anschreiben nur noch als optionaler Bestandteil einer Bewerbung gesehen wird. Andere rufen sogar ausdrücklich zum Verzicht auf. Für Bewerber stellt sich daher die Frage, ob sie überhaupt Mühe in ein Dokument investieren sollten, dass scheinbar immer weniger Beachtung findet.
Die Anschreiben-Debatte
Warum aber ist das Anschreiben überhaupt in Verruf geraten? Sehen wir uns dazu mal beispielhaft ein Anschreiben-Text an, wie er Personalern wohl des öfteren in die Hände fällt:
Sehr geehrte Frau Musterfrau,
vielen Dank für das informative Telefongespräch am 06.07.2022. Anliegend finden Sie wie vereinbart meine vollständigen Bewerbungsunterlagen für die Stelle als Industriemechaniker. Obwohl mir mein aktueller Job viel Spaß macht, so fehlen mir doch die Entwicklungsmöglichkeiten. Ich suche daher nach einer neuen beruflichen Herausforderung und sehe in der von Ihnen ausgeschriebenen Stelle spannende Perspektiven. Wie Sie meinem Lebenslauf entnehmen können, erfülle ich die von Ihnen genannten Voraussetzungen. Als kompetenter und erfahrener Mitarbeiter bin ich in der Lage, mich in kürzester Zeit in Ihr Unternehmen integrieren. Zu meinen Stärken zählen: Pflichtbewusstsein, Flexibilität und Hilfsbereitschaft. Wenn Sie mein Profil überzeugt, freue ich mich auf ein persönliches Kennenlernen.
Mit freundlichen Grüßen
Was sich im ersten Moment passabel anhört, erweist sich auf den zweiten Blick als absolut nichtssagend: Über die “neuen Herausforderungen” lässt der Bewerber den Leser genauso im Unklaren wie über seine einschlägigen Kompetenzen oder Erfahrungen. Außerdem erscheint das Herausstellen von Selbstverständlichkeiten als Qualität (Flexibilität etc.) alles andere als rühmlich. So lässt sich eigentlich aus keiner einzigen Aussage ableiten, inwiefern der Bewerber für die Stelle wirklich geeignet wäre. Fraglich ist auch, ob der Bewerber das Anschreiben überhaupt eigenhändig verfasst hat. Eher liegt die Vermutung nahe, dass es sich um ein Musteranschreiben handelt, dass weder selbst formuliert, noch formatiert worden ist.
Und so muss sich der Leser durch einen Textblock voller Floskeln wühlen, ohne daraus einen Mehrwert für seine Beurteilung ziehen zu können. Aus diesem Blickwinkel ist es durchaus nachvollziehbar, dass Rekrutierungsstellen sich genötigt sehen, von einem Anschreiben abzusehen – was im Übrigen auch eine strategische Entscheidung sein kann, darf man sich doch neben schnelleren Reaktionszeiten auch eine höhere Bewerbungsquote davon versprechen.
Warum es trotzdem sinnvoll ist, ein Anschreiben zu verfassen
Aber: die Einstellungspraxis eines Unternehmens lässt sich nicht automatisch auf andere übertragen. Für viele Unternehmen bleibt das Anschreiben ein erklärtes Auswahlkriterium – mitunter mag es sogar den Stellenwert einer Arbeitsprobe einnehmen, z. B. im Hinblick auf Sprachsicherheit, Schreibvermögen, Argumentationsfähigkeit oder Medienkompetenz. Insofern bietet das Anschreiben eine gute Gelegenheit, um sich von Mitbewerbern abzuheben und erklärungsbedürftige Passagen des Lebenslaufs näher zu erläutern (Zickzack-Werdegang, Projekterfahrungen etc.).
Verlangt die Stellenausschreibung vollständige oder aussagekräftige Bewerbungsunterlagen, sollte der Bewerber seiner Bewerbungsmappe ein Anschreiben undbedingt beilegen. Dies gilt übrigens auch für Bewerbungen per Mail, wo das Anschreiben am besten als Anhang im PDF-Format enthalten sein sollte. Hintergrund ist, dass Anhänge gerne getrennt von einer Mail ausgedruckt bzw. weitergeleitet werden. Auf diese Weise vermeiden Sie, dass der Anschreiben-Text aus Ihrer Email in der innerbetrieblichen Kommunikation untergeht.
Abgesehen davon, dass mit einem Anschreiben also der Bewerbungsstandard erfüllt wird, gehört es auch zum guten Ton, eine Sendung so aufzubereiten, dass der Empfänger sie ohne weiteres einordnen kann. Aus der Bewerbungsmappe selbst geht nämlich i. d. R. nicht hervor, an welche Person die Bewerbung gerichtet ist, welche Stellenausschreibung damit adressiert wird oder auch welche Gehaltsvorstellung dem Bewerber vorschwebt – all diese Informationen werden üblicherweise im Anschreiben untergebracht.
Im Zweifel lieber konservativ: Um Ihre Bewerbungs-Chancen nicht unnötig zu schmälern, sollten Sie sich an die klassischen Bewerbungskonventionen halten, d. h. Anschreiben, Lebenslauf und Zeugnisse. Ein Anschreiben zu viel schadet nicht. Ein Anschreiben zu wenig, wirft immer Fragen auf: besteht ein Sprachdefizit, fehlt digitale Kompetenz oder sogar Motivation?
Wann Sie im Einzelfall auf das Anschreiben verzichten können
Im Ausnahmefall kann es jedoch tatsächlich legititm sein, das Anschreiben wegzulassen:
- Die Stellenausschreibung weist ausdrücklich darauf hin, dass ein Anschreiben verzichtbar ist. Achtung: Auch wenn (statt einer aussagekräftigen Bewerbung) nur von einer “Kurzbewerbung” bzw. “Bewerbung” die Rede ist, sollten Sie davon ausgehen, dass ein Anschreiben verlangt wird.
- Online-Formulare, die den Upload eines Anschreibens ausschließen. Möglicherweise werden Sie von Online-Formulare nur zum Upload von Lebenslauf und Zeugnissen aufgefordert. Sie müssen in diesem Fall dann nicht etwa ein Anschreiben in die Lebenslauf-PDF integrieren. Ersatzweise könnten Sie jedoch angehalten sein, Freitext-Felder zu Schwerpunkten wie Berufserfahrung, Kernkompetenzen oder Motivation auszufüllen.
- Kurzbewerbungen auf einer Jobmesse. Da Sie nicht 100%ig vorwegnehmen können, welche Stellenangebote Sie erwarten und mit welchen Unternehmen/ Ansprechpartnern Sie in Kontakt treten, ist es nicht dramatisch, hier auf ein Anschreiben zu verzichten und nur einen Lebenslauf/ ein Bewerberprofil zu hinterlassen.
- Einhaltung knapper Bwerbungsfristen. Ein gutes Anschreiben braucht Zeit. Was aber, wenn die Bewerbungsfrist an dem Tag endet, da man auf die Stelle gestoßen ist? Dann verzichten Sie kurzerhand darauf und bieten Sie an, das Anschreiben nachzureichen: “Zur Einhaltung der Bewerbungsfrist verzichte ich auf ein ausführliches Anschreiben und reiche dies bei Interesse gerne nach.”
Unzureichende Fähigkeiten sind gewiss kein hinreichender Grund, auf ein Anschreiben zu verzichten. Gerade im Bereich der Bewerbungshilfe sind die Angebote vielfältig. Anlaufstellen sind bspw. Berufsberatungsstellen, Jobcenter, Bildungsträger oder natürlich netzbewerber.net … Wer will findet Wege, wer nicht will, findet Gründe;)