Verschlüsselungstechniken
Es haben sich verschiedene Strategien etabliert, um Kritik zwischen die Zeilen zu schreiben und ein Zeugnis wohlwollend klingen zu lassen.
Abgestufte Positivskala
- auf gute und sehr gute Leistungen wird durch das Hinzufügen und Kombinieren von Steigerungsattributen hingewiesen (stets, immer, jederzeit; vollst, voll…)
- das Weglassen dieser Attribute stuft die Leistungen nach unten ab
Note 1: „Er führte alle Aufgaben stets zu unserer vollsten Zufriedenheit aus.“
Note 2: „Er führte alle Aufgaben stets zu unserer vollen Zufriedenheit aus.“
Note 3+: „Er führte alle Aufgaben zu unserer vollen Zufriedenheit aus“
Note 3: „Er führte alle Aufgaben stets zu unserer Zufriedenheit aus“
Note 4: „Er führte alle Aufgaben zu unserer Zufriedenheit aus.“
Note 5: „Er führte alle Aufgaben im Wesentlichen zu unserer Zufriedenheit aus.“
Note 6: „Er bemühte sich, alle Aufgaben zu unserer Zufriedenheit zu erledigen.“
- auch wenn über einen Verhaltensaspekt „hinweggeschwiegen“ wird, ist die Beurteilung mangelhaft bzw. unzureichend
- die Verwendung von des Attributs „voll“ zu „vollst“ ist aus grammatikalischer Sicht zwar nicht korrekt, hat sich aber so eingebürgert – ein Verzicht auf den Superlativ „vollst“ ist bereits als Leistungsminderung zu verstehen
- diese Formulierungsstrategie kommt insbesondere bei der zusammenfassenden Leistungsbeurteilung zur Anwendung und sollte dort auch strikt eingehalten werden
- ein häufiger Fehler bei Laienverfassern ist der ausschweifende Einsatz von Steigerungsattributen: selbst wenn es gerechtfertigt ist, müssen Leistungen nicht überall mit „stets“ und „vollst“ beurteilt werden, das ist stilistisch unglücklich und riecht verdächtig nach Eigenlob
- der folgende Zeugnisausschnitt ist ein klassisches Eigentor:
Herr Mustermann verfügt über umfassendes und vielseitiges Fachwissen, das er mit außerordentlicher Initiative, großem Eifer und überdurchschnittlichem Erfolg einsetzte. Seine ausgeprägte Auffassungsgabe befähigte ihn, auch die kompliziertesten Zusammenhänge mühelos zu überblicken. Stets legte er ein Höchstmaß an Leistungsbereitschaft an den Tag. Mit seinen Ergebnissen waren wir in jeder Hinsicht und zu jeder Zeit überaus zufrieden.
Erwähnung von Selbstverständlichkeiten
- bei qualifizierten Arbeitnehmern ist die Betonung von Selbstverständlichkeiten wie Pünktlichkeit oder Vertrauenswürdigkeit als bewusste Abwertung der Arbeitsleistung zu verstehen (was so viel heißt wie „Erwähnenswerteres gibt es nicht zu berichten“)
Er erscheint pünktlich, arbeitet umsichtig und ist hilfsbereit.
- ausgenommen sind Berufssparten, bei denen ein sonst nebensächliches Merkmal als Schlüsseleigenschaft zu werten ist:
- so ist es in einigen Berufssparten üblich, auf die Ehrlichkeit bzw. Diskretion/ Zuverlässigkeit des Arbeitnehmers ausdrücklich hinzuweisen (Verkäufer, Kassierer, Filialleiter, Hotelpersonal, Auslieferungsfahrer, kaufmännische Berufe …)
Leerstellentechnik („beredtes Schweigen“)
- eine zu erwartende Aussage wird ausgelassen – das können einzelne Begriffe sein oder ganze Passagen (etwa über das Fachwissen oder den Arbeitserfolg)
„Ihr Verhalten gegenüber Kollegen war einwandfrei“ – die Floskel zur Verhaltenseinschätzung schließt eigentlich auch Vorgesetzte, gegebenenfalls auch Kunden mit ein. Eine Auslassung deutet darauf hin, dass es zu einem Fehlverhalten gegenüber einer oder beiden Personengruppe(n) gekommen ist. Ohne das obligatorische „stets“ wiegt der Tadel noch schwerer.
Passivierungstechnik
- auf einen Mangel an Eigeninitiative wird z. B. in dieser Art hingewiesen:
„Den ihm übertragenen Aufgaben kam er mit Sorgfalt nach.“
„… war bei uns beschäftigt als …“
„… ist eingesetzt worden …“
„… hatte einfache Bürotätigkeiten zu erledigen …“
Doppelte Verneinung
- im alltagssprachlichen Gebrauch positiv gemeint, im Arbeitszeugnis eine bewusste Abwertung:
„Sein Verhalten gab keinen Anlass zur Beanstandung.“ (lobenswert war es offenbar auch nicht)
„Er leistete einen nicht unerheblichen Beitrag zum Erfolg seiner Abteilung.“ (wirklich erheblich war der Beitrag trotzdem nicht)
Widersprüchliche Aussagen
- Widersprüche sind eigentlich nicht gestattet – von Gesetzes wegen her muss ein Zeugnis klar und eindeutig formuliert werden, dennoch trifft man hin und wieder auf Aussagen, die eine vorangestellte gute Beurteilung durch einen widersprüchlichen Zusatz in Frage stellen
- ein Widerspruch entsteht beispielsweise dann, wenn ein Arbeitnehmer gut oder sehr gut beurteilt wurde, der obligatorische Dank für die Zusammenarbeit aber unterschlagen wird – dies wurde richterlich untersagt (LAG Hamm 12.07.1994, 4 Sa 564/94)
Einschränkungsformulierungen
- auf mangelhafte Leistungen wird mit Formulierungen hingewiesen wie: in der Regel, im Allgemeinen, im Wesentlichen, im Großen und Ganzen, weitgehend
Ihre Aufgaben erfüllte sie im Wesentlichen zu unserer Zufriedenheit.
Abwandlung der Reihenfolge
Das Verhalten gegenüber Kunden, Kollegen und Vorgesetzten war einwandfrei.
- werden die Vorgesetzten hintangestellt, deutet dies auf ein Fehlverhalten gegenüber dieser Personengruppe hin
- die gängige Reihenfolge in der Verhaltensbeurteilung lautet: Vorgesetzte, Kollegen und Kunden (erst intern – hierarchisch abgestuft, dann extern)